Mirko Gashi, albanische Literatur, Gedichte in der Übersetzung von Joachim Röhm
Mirko Gashi
»Gashi kann als einer der ganz wenigen echten Bohemiens unter den albanischen Schriftstellern in Prishtina und überhaupt gelten. Wo seine Kollegen das Feste, Beständige, Überlieferte besangen (Berg, Stein ...), bevorzugte er in seinen Metaphern das Weiche, Fließende, Bewegte: Wasser, Fluss und Meer. Und auch wenn er sich an dem obligatorischen "nationalen Thema" versucht (Populus Illiricus), dann mit feiner Ironie anstelle des üblichen überschäumenden vaterländischen Pathos.«
Beqė Cufaj:
Zwei Hauptstädte, zweierlei Leben und eine Literatur
(Einleitung zum Schwerpunkt "Literatur aus Tirana und Prishtina" in LICHTUNGEN 86 (2001)
Der Geiser
Mit jedem vers
verbrenn ich
die vestalinnen lassen mich
nicht aus den augen
erschaudern
beim gedanken
dass wasser mich löscht
die armen
lebendig wird
man sie begraben
eines tages
wenn für mich auf den ästen
die vögel zwitschern
Aus den tränen
der begrabenen vestalinnen
wird ein schäumender geiser
aus meiner asche
steigt phönix auf
Nachruf auf eine Liebe
Zwischen mich und dich
legte die träne drei ozeane im winterschlaf
mit wiegenliedern umgürten sie die schwärme silberner fische
der wind bote des sturms
vom schlaf des gebändigten vulkans
erwartest du das ende der polaren nacht
darum
warte nicht auf mich mit offenen armen
ich werde nicht kommen
mit dem tuch gewirkt aus regenbögen
um deinen steinernen apfel
zu empfangen
in deiner kehle
erwachen die schwäne
in deinen augen
stirbt die ebbe
zwischen mich und dich
legte die träne drei ozeane im winterschlaf
Populus Illiricus
Das volk
weiß
wann es gilt mit drei
und wann
mit fünf fingern
sich zu bekreuzigen
und wann zeit ist
sich gen mekka zu neigen
Es
sagt dir
ganz klar
es gibt keine anderen götter
neben mir
Das volk sagt dir
es gibt keinen besseren
bürgermeister als das dorf
Es hat seine eigene
wetterkunde
in den knien der alten männer und frauen
wenn dieser oder jener stern
hier ist oder dort
Das volk weiß
warum
man den fluss nicht verlacht
weil er sich schlängelt
in seinem lauf
irrt sich vielleicht ein tropfen
nie der fluss
2.
da nur es selbst
seinen weg kennt
wird den tanz des volkes
keiner lernen
nichts, gar nichts
davon
ein vergängliches leben lang
Hör nie auf
an deinen neuen Gott zu glauben
glaube du
und ich glaube dir
heißt die devise
Das volk weiß
dass nur kinder und tiere
dich aufrichtig lieben
Jedes wort
das du hörst
über das volk
ist zu klein
Es hat den schlüssel
zu jedem rebus
es allein kennt keine rätsel
Hei
Es
weiß
welcher mann im haus
auf dem markt ist
und welcher nicht
Es weiß darum
wie der kleine Luli
3.
wo es schatten gibt
und wo sonne
wer Mark ist
wer Januz
und wer Janus
Das auge des volkes
ist tief
wie ein ozean
Das volk sagt dir
das lied
ist die klage des mannes
so ist das im leben
Es hat
was auch immer
Kein großes werk
stammt von Dante Alighieri
oder sonst einem
es stammt von Ihm
dem ärmlichen
Du kannst nicht glauben
was du hörst
das volk hingegen
weiß es
Bevor
es
den elften schritt tut
hat es schon zehn getan
Das volk
hat kein epizentrum
all seine
ecken
und enden
können dafür gelten
4.
Das volk lehrt
durch redensarten
Es sagt:
»Was einer kann
das kann er«
© Joachim Röhm
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